Hebräisch für alle

Ein offenes Sprachprojekt lädt zum Nachdenken über Geschlechterrollen ein.

Von Milan Ziebula

Die beiden Amerikaner Lior Gross und Eyal Rivlin haben sich Großes vorgenommen: Sie wollen ein neues Grammatiksystem für die hebräische Sprache entwickeln, das sich an nichtbinäre Menschen richtet. Dabei handelt es sich um Personen, deren Geschlechtsidentitäten nicht in das übliche Zweiersystem von Mann oder Frau hineinpassen, weshalb sie sich auch außerhalb davon verorten.

Genau diese Gruppe ist in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Linguistik gerückt. Sprache schafft Realitäten, so die Ausgangsthese. Und ihre Ausdrucksmöglichkeiten können Menschen entweder ein‐ oder ausschließen, sie sogar verletzen. Lior Gross beispielsweise definiert sich weder als Frau noch als Mann, stammt aus Maryland und hat an der University of Colorado Boulder Ökologie studiert.

Auf Englisch wird Gross mit dem Pronomen »they« angesprochen, ein geschlechtsneutrales Pronomen, das es im Hebräischen und auch im Deutschen nicht gibt.

Worte Als Gross vor über einem Jahr einen Hebräisch‐Kurs bei Eyal Rivlin an der Universität belegen wollte und in einer Mail in der Signatur das Pronomen »they« vermerkte, fragte der Dozent, wie Gross auf Hebräisch gerne angesprochen werden möchte. Denn in dieser Sprache kommen viele Worte ausschließlich binär gegendert daher. Will man etwa »der schlaue Student studiert Hebräisch« sagen, werden neben »Student« auch die Worte »schlau« und »studieren« mit männlichen Endungen versehen.

Sprache schafft Realitäten, und diese sollen erweitert werden.

Weil Gross aber nicht wusste, wie die Anrede an sie/ihn lauten sollte, hat Gross gemeinsam mit Rivlin das Projekt Nonbinary Hebrew auf die Beine gestellt. Ziel ist es, eine neue Grammatik zu konzipieren, bei der jedes Wort mit einer nichtbinären Endung versehen werden kann. Seitdem arbeiten beide daran, die hebräische Sprache für nichtbinäre Menschen in diese Richtung weiterzuentwickeln.

Rivlin, dessen Familie aus Israel stammt, betont, wie wichtig es ihm ist, dass sich alle Studierenden in seinem Unterricht wohl und sicher fühlen. Gemeinsam mit Gross startete er im Rahmen des Unterrichts mit der Klasse daher erste Sprachexperimente. Sie entwickelten ein System, bei dem die meisten Wörter mit der Endung »eh« versehen werden. Ein/e Student/in wird somit zum »Talmideh.« Und wenn diese Person studiert, kann man sagen: »Talmideh lomdeh«. Die regulären Formen lauteten bis dato nur »Talmidah lomedet« für die Studentin oder »Talmid lomed« für den Studenten.

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